GST-Buchtipp: Melancholie der Ankunft

GST-Buchtipp: Melancholie der Ankunft

Da sie häufig allein mit Texten arbeiten oder als Mediator*innen zwischen Drittparteien agieren, ist es wohl keine Überraschung, dass Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen nicht so häufig in Romanen oder Filmen vorkommen wie beispielsweise Detektiv*innen, Kriminelle oder Politiker*innen. Es gibt allerdings einige erwähnenswerte Ausnahmen, zu denen die Pulitzer-Preis-gekrönte Kurzgeschichtensammlung der Autorin Jhumpa Lahiri Melancholie der Ankunft [Originaltitel: Interpreter of Maladies] gehört. Lesen Sie weiter, um herauszufinden, weshalb dieses Werk unser heißer GST-Buchtipp ist.

 

Dolmetschen als romantischer Beruf

In der ersten Geschichte in Jhumpa Lahiris Melancholie der Ankunft geht es um Mr Kapasi, der als Fahrer und Reiseführer für die Familie Das arbeitet, wobei letztere aus Mr und Mrs Das und ihren drei jungen Kindern besteht. Die Eltern der Eheleute Das stammen zwar aus Indien, doch sie selbst, wie auch ihre Kinder, sind in Amerika geboren und großgeworden. Nun besuchen sie Indien als Tourist*innen.

Die anfänglich gelangweilt und desinteressiert anmutende Mrs Das entdeckt plötzlich ihr Interesse an Mr Kapasi als sie erfährt, dass er nur am Wochenende als Reiseführer arbeitet. In seinem regulären Beruf ist er als Dolmetscher in einer Arztpraxis tätig. Einige der Patient*innen des Arztes sind Gujarati und anders als der Arzt spricht Mr Kapasi ihre Sprache. Seine Aufgabe ist es also, die Symptome der Patient*innen korrekt zu übersetzen, sodass der Arzt die richtige Behandlung verschreiben kann.

Dieser Job entspricht überhaupt nicht den ursprünglichen Träumen des Mr Kapasi, der sich als junger Mann gern auf internationaler Bühne als Dolmetscher für Diplomat*innen und Förderer internationaler Verständigung vorstellte. Sein jetziger Beruf zahlt bescheiden und seine eigene Frau schaut auf seine Arbeit herab. Entsprechend groß ist also seine Überraschung, als ihm Mrs Das plötzlich sagt, sein Job sei „so romantisch“.

Als er sie bittet, ihre Aussage zu begründen, sagt sie „Diese Patienten sind vollkommen auf Sie angewiesen. In gewisser Weise mehr als auf den Arzt“. Mrs Das erwähnt einen Patienten, der Mr Kapasi seinen Rachenschmerz als „wie lange Halme Stroh“ beschrieben hatte. Sie sagt: „Sie hätten beispielsweise dem Arzt sagen können, der Schmerz fühle sich brennend anstatt wie Stroh an. Der Patient hätte nie gewusst, was Sie dem Arzt gesagt hatten, und der Arzt hätte nie gewusst, dass Sie das Falsche gesagt hatten. Sie tragen also eine große Verantwortung“.

 

Dolmetschen und (Fehl)interpretationen

Mr Kapasi – ein fleißiger doch wenig wertgeschätzter und einsamer Mann im mittleren Alter – fühlt sich von dem Interesse dieser jungen Frau geschmeichelt. Mit Voranschreiten der Führung lädt ihn Mrs Das dazu ein, gemeinsam mit der Familie zu Mittag zu essen und für einige Fotos mitzuposieren. Er stellt sich dabei vor, wie sich eine Bindung zwischen ihm und Mrs Das aufbaut und hofft, dass sie auch nach ihrer Abreise aus Indien den Kontakt halten können. In Briefen könnte er ihr alles über sein Land erzählen und sie könnte ihm Amerika näherbringen. In gewisser Weise wäre das ja gar nicht anders als sein alter Traum, Völkerverständigung zu fördern.

Doch die Vorstellungen der Mrs Das schlagen einen anderen Weg ein. Sie interessiert sich vielmehr für Mr Kapasis Fähigkeit, Krankheiten zu „interpretieren“. Durch all seine Erfahrung als Dolmetscher eines Arztes hat er sicherlich schon einiges über gewisse Krankheitsbilder und die dazu passenden Behandlungen gelernt? Wie sich herausstellt, leidet sie an einer ganz eigenen Unpässlichkeit und brauch dringend einen Rat.

 

Sprache: tief in kulturellem Kontext und persönlicher Geschichte verankert

Ohne den Ausgang der Geschichte zu verraten, kann man problemlos sagen, dass die beiden Hauptfiguren aneinander vorbeireden. Dies liegt daran, wie alle guten Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen wissen, dass Sprache nicht nur eine wortwörtliche Bedeutung trägt, sondern genauso stark von kulturellem Kontext und persönlicher Geschichte beeinflusst wird. Auf dem Weg von der Quelle bis zum Ziel muss sichergestellt werden, dass die beabsichtigte Bedeutung nicht verformt und fehlinterpretiert wird Was sonst passieren kann, wird in dieser Geschichte eindrücklich gezeigt.

 

Geschichten von Kommunikation und kultureller Anpassung

Die Titelgeschichte dieser Sammlung ist eine von insgesamt neun. Einige davon spielen sich in Indien ab, doch die meisten handeln von Migrant*innen in den USA. Neben den Herausforderungen, die mit alten Traditionen und neuen Heimatländern einhergehen, spielt gescheiterte oder fehlgedeutete Kommunikation in vielen der Geschichten eine zentrale Rolle. Dieses Werk wurde ursprünglich 1999 veröffentlich und gewann im Jahr darauf den Pulitzer-Preis. Die Geschichten spielen sich in einer noch nicht digitalisierten Welt ab, haben dafür einen zeitlosen Charakter und sind dadurch heute noch genauso relevant sind wie zur Entstehungszeit.

Die sprachliche Reise der Autorin ist genauso spannend: Sie wurde in England geboren als Tochter bengalischer Eltern, zog als Kind in die USA und erzählt von ihrem komplizierten Verhältnis zu Bengali und Englisch. Nach der Veröffentlichung einiger englischsprachiger Bücher zog sie nach Italien und setzte sich das Meistern der dortigen Sprache zum Ziel. Ihr jüngstes Buch, ein kurzer Roman mit dem Titel Whereabouts schrieb und veröffentlichte sie im Italienischen. Anschließend übersetzte sie es selbst ins Englische, womit sie sich zu berühmten selbstübersetzenden Schriftsteller*innen wie Beckett und Nabokov gesellt.

Tatsächlich gibt es aber keinen besseren Einstieg in ihre Werke als ihr Debut. Diese erstaunliche Sammlung umfasst raffinierte, traurige, humorvolle und menschliche Geschichten, die zudem noch eine besondere Relevanz für Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen bieten.

 

(NB, 2021)

 

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